Der Hartz-IV-Alltag: Wie leben die Betroffenen, was sagen Ämter und was raten Experten?
Die Karte zeigt, wieviele Hartz-IV-Bezieher in den Berliner Bezirken wohnen
Die Arbeitslosenzahlen sinken, die Firmen stellen wieder ein. Das sind die guten Nachrichten. Die schlechten: Berlin bleibt Hartz-IV-Hauptstadt, 595.936 Menschen sind hier auf Hartz IV angewiesen. 440.177 davon beziehen Arbeitslosengeld II, 155.759 Sozialgeld. Das heißt, jeder fünfte Berliner im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65) bekommt Stütze.
In einer neuen großen Serie erzählt die B.Z. die Wahrheit über Hartz IV. Wir sprechen mit Arbeitslosen. Schildern den Alltag am Sozialgericht. Lassen Arbeitsvermittler und Berater zu Wort kommen, die helfen wollen. Dazu jede Menge Informationen. Die neuesten Hartz-IV-Urteile. Die wichtigsten Adressen. Die spannendsten Nachrichten.
Im ersten Teil: Zahlen und Fakten, die die Arbeitsagentur zusammengestellt hat.
Alarmierend in Berlin: Es trifft immer mehr Junge und Alte. Jeder 10. Hartz-IV-Empfänger ist unter 25, schon jeder 5. über 50 Jahre alt. „Vor allem diese Altersgruppen müssten vom Senat mehr unterstützt werden, um sich in den Arbeitsmarkt integrieren zu können“, fordert FDP-Fraktionsvize Björn Jotzo.
Ebenso schockierend: die steigende Zahl der „nicht erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“. 155.759 haben keine Schulausbildung oder sind so lange arbeitslos, dass sie keinen Job mehr finden. Das sind 10123 mehr als 2009. Sie bekommen als Hartz-IV-Leistung nicht das Arbeitslosengeld II, sondern das Sozialgeld.
Spitzenreiter in Berlin ist Mitte. Hier leben mit 79.772 die meisten Hartz-IV-Empfänger, gefolgt von Neukölln (75.678) und Friedrichshain-Kreuzberg (59.322, siehe Grafik).
Staatliche Hilfe, eine teure Angelegenheit für Berlin. Allein für nicht erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger gibt die Hauptstadt jährlich 280 Millionen Euro aus. Alle Hartz-IV-Empfänger kosteten 2009 insgesamt 1.341.681.000 Euro.
Rein rechnerisch hatte die Hauptstadt pro Einwohner 391 Euro Sozialausgaben. Das ist zwar weniger als Bremen (486 Euro) und Hamburg (396) ausgaben. Der Bundesdurchschnitt liegt aber bei nur 255 Euro pro Kopf. Am wenigsten gaben Baden-Württemberg (188 Euro) und Sachsen (134 Euro) aus.
Junge Berliner verzweifelt
Hartz IV – für viele schon Endstation, bevor das Arbeitsleben richtig angefangen hat. 75.000 junge Berliner unter 25 Jahre finden keinen Job, obwohl es immer mehr freie Stellen gibt. „Ich bin jetzt 26, bekomme seit fünf Jahren Hartz IV“, sagt Janine R. aus Hellersdorf. „Das kann nicht meine Zukunft sein. Ich will unbedingt arbeiten.“
Doch die meisten Firmen suchen Spezialisten und gut ausgebildete Fachkräfte. Berufsanfänger oder gar Jugendliche ohne Ausbildung haben da keine oder nur wenig Chancen.
Und doch gibt es auch hier Hoffnung. „In Berlin ging die Zahl der Menschen ohne Arbeit im September deutlich zurück, insbesondere bei den Jugendlichen“, so Margit Haupt-Koopmann, Chefin der Regionaldirektion der Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg. „Erfreulich ist, dass auch die Zahl der den Arbeitsagenturen gemeldeten Stellen weiter deutlich höher ist als im Vorjahr.“
Für viele ist auch der Schritt in die Selbstständigkeit der Weg aus Hartz IV. Im September 2010 wurden an 7777 Berliner Gründungszuschüsse für ihre Unternehmen gezahlt – 1098 mehr als im Vorjahr. Knapp 1000 davon bezogen noch vor kurzem Stütze.
„Für meine Kinder verzichte ich auf neue Kleider“
Janine R. (26) aus Marzahn ist alleinerziehende Mutter dreier Kinder, Emilia Joana ist ihr jüngstes (vier Monate, im Foto). Als ihr Vater zum Pflegefall wurde, brach Janine R. die Ausbildung zur Hauswirtschafterin ab, lebt seit fünf Jahren von Hartz IV. „Zwar bekomme ich 359 Euro Hartz IV, 386 Euro Kindergeld und die Miete wird erstattet“, sagt sie, „dennoch ist das Geld oft schon Mitte des Monats aufgebraucht.“ Mittagessen geht sie mit ihren Kindern in der Arche in Hellersdorf. „Ich versuche, ihnen auch mal Spielzeug zu kaufen, verzichte dann auf eine neue Hose für mich.“ Arbeiten würde sie gern, sagt sie: „Doch viele wollen keine Frau einstellen, die drei Kinder hat und nicht so flexibel einsetzbar ist.“
„Unterm Strich bleiben uns 20 Euro“
Matthias (29) und Miriam N. (23) leben mit ihrer Tochter Samantha-Jolie (ein Monat alt) in einer Dreizimmerwohnung in Hellersdorf. Er ist studierter Informatiker, fand keinen Job, bekommt seit drei Jahren Hartz IV. Seine Freundin lebt mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft. „Nach Abzug von Essen, Getränken, Pflegeartikeln für das Baby, Kleidung, Strom und Telefon bleiben uns unterm Strich 20 Euro pro Monat zum Leben“, sagt Matthias N. „Seit der Geburt unseres Babys müssen wir jeden Cent umdrehen, haben auch das erste Kindergeld noch nicht ausgezahlt bekommen.“ Kinobesuche können sich die Eltern nicht leisten. „Unsere einzige Freizeitaktivität ist Spazierengehen“, sagt Matthias N., „das ist wenigstens kostenlos.“
„Das Einzige, was ich mir leiste, ist mal ein Bier“
Daniel B. (26), gelernter Maler und Lackierer, lebt als Single in Neukölln, bezieht seit drei Jahren Hartz IV. Von den 359 Euro, die der Hobby-Fußballer vom Amt bekommt, zahlt er monatlich 30 Euro Strom für seine Einzimmer-Wohnung, 50 Euro zahlt er bei der Bank zur Schuldentilgung ein. „Ich gebe meiner Mutter für Kost und Sonstiges 170 Euro im Monat, so muss ich selbst nicht einkaufen gehen. Meiner Freundin stecke ich auch noch etwas für unsere kleine Tochter zu. Das Einzige, was ich mir am Wochenende leiste, sind ab und zu ein Bier in der Kneipe nach dem Training und Zigaretten. Bis zum Monatsende reicht das Geld eigentlich nie.“
Lesen Sie morgen: Ein Tag im Leben einer Hartz-IV-Familie.